Historie

Die Anfänge der Besiedlung

Es liegt eine Reihe von Indizien dafür vor, dass die Besiedlung des Everswinkler Raumes von der relativ dicht besiedelten Emsaue ihren Ausgang nahm und zunächst dem Bachlauf des Mußenbaches folgte. An seinem Unterlauf befindet sich eine Drubbelsiedlung von mehreren Höfen. Südlich davon liegt der Hof Suttorp, den ich mit „Trupp im Süden“ deuten möchte; südöstlich ist der Hof Averfeld zu finden („über dem Feld“.) Das heißt, dass die namengebenden Höfe im Norden liegen, näher bei der Mündung des Mußenbaches, und damit die älteren sind.

Vom Mußenbach aus erfolgte die weitere Besiedlung entlang des Hagenbachs und des Kehlbachs, der der Angel zufließt. Die Wasserscheide fällt ziemlich genau mit der Bergstraße im Dorfkern zusammen. Hier am Kehlbach stoßen wir auf eine ziemlich ungewöhnliche Siedlungskonstellation, auf die schon Rosenbohm aufmerksam machte. Rings um das heutige Dorf liegt auf einem Dreiviertelkreis im Abstand von etwa 500 m eine Reihe von großen Höfen: Schulze Kelling, Schulze Westhoff, Homann, Grothues, Große und Lütke Winkelsett, Haus Langen. Nur im Süden fehlen in unmittelbarer Nähe des Dorfes die Höfe aus einem durchsichtigen Grund. Dort verläuft der Everswinkler Berg, auf dem die Mergelschichten der Kreidezeit bis fast an die Oberfläche reichen, und der daher für Ackerbau ungeeignet war. Im Mittelalter und bis ins 19. Jahrhundert wurde er als Allmende, als gemeinsam genutztes Gemeindegut, verwendet.

Auch ein Halb- oder Dreiviertelkreis hat einen Mittelpunkt, und man könnte annehmen, dieser Mittelpunkt sei das Dorf. Dem ist nicht so. Ein Dorf oder einen Dorfkern gab es noch nicht, wie ich später zeigen werde. Nachweislich älter als die Bebauung im Dorf sind die Höfe Schulze Kelling und Schulze Westhoff. Sie werden bereits in einem Güterverzeichnis des Klosters Überwasser in Münster, gegründet 1040, vor 1100 erwähnt. Wer war dann der Mittelpunkt dieses unvollständigen Kreises? Die Antwort kann nur lauten: das ehemalige im Südwesten des heutigen Ortes gelegene Haus Borg und das im Südosten des Dorfes angesiedelte Haus Langen (Diepenbrock), die aus einer Teilung hervorgegangen sind.

 

Die Gründung der Pfarrei

Haus Borg oder die Adelsfamilie, die damals auf dem Gut saß, ist verantwortlich für die Gründung der Pfarrei und den Bau der Kirche als Eigenkirche um 867 n. Chr., denn nur der Adel besaß das dazu erforderliche Vermögen und die Mittel, und das heißt in der Zeit der Naturalwirtschaft Grund und Boden, um den Unterhalt der Kirche und des Pfarrers sicherzustellen. Das Jahr um 867 oder die spätkarolingische Gründung der Anlage ist gesichert durch das Patrozinium des Hl. Magnus der Kirche von Everswinkel. Im Bistum Münster ist sie die einzige Kirche, die St. Magnus als Hauptpatron führt. Seine Gebeine wurden nach Ausweis der Xantener Annalen 866 dem Bischof Liudbert von Münster mitgegeben. Ausgrabungen in der Kirche weisen auf einen spätkarolingischen Kirchenbau hin. In der Nähe der Kirche unter dem Jüttnerschen Haus wurden bei Arbeiten Baumsärge gefunden. Hierzu Otfried Elger: „Christliche Bestattungen in Baumsärgen sind in Westfalen von der Missionszeit im späten 8. bis ins 10. Jahrhundert üblich.“

Dass die Everswinkler Kirche eine Eigenkirche des Hauses Borg war, lässt sich an einigen Fakten festmachen: 1. Das Haus Borg besaß die „Triftgerechtigkeit“, das Recht, Vieh weiden zu lassen, auf dem „Brümskamp“ und auf der Heerstraße (Weg nach Münster), soweit sich die Gründe des Hauses Borg und des Pastors von Everswinkel erstrecken. 2. Die Ländereien des Hauses Borg und der Kirche liegen verzahnt nebeneinander. So ist der Kirchplatz Kirchengrund; westlich davon gehören dem Grafen von Galen, dem Erben des Hauses Borg, die Nutzflächen, und nördlich davon sind sie wiederum im Besitz der Kirche. Und nicht nur dort liegen die Ländereien des Hauses Borg und der Kirche nebeneinander.

Werfen wir nun einen Blick auf die Pfarrgrenzen. Sie bilden einen ziemlich unregelmäßigen Kreis mit einem Radius von 4-6 km um das Dorf oder besser um die Kirche. Sie halbieren in etwa die Abstände zu den größeren Nachbarorten Hoetmar, Sendenhorst, Wolbeck, Telgte, Warendorf und Freckenhorst, wobei Alverskirchen einzubeziehen ist, denn es wurde 1203 von Everswinkel abgesondert. Beweis: Die Grenze zwischen Everswinkel und Alverskirchen verlief im Abstand von 2:1 zwischen den beiden Orten, und noch 1619 ist eine gemeinsame Prozession am Vitustag, dem Tag des Gemeindepatrons, bezeugt. Sie nahm ihren Ausgang an der Kirche in Everswinkel, durchzog das Gebiet beider Pfarreien und kehrte zur Everswinkler Kirche zurück.

Nur im Nordwesten wird ein deutlicher Einschnitt in den Pfarrbezirk sichtbar. Er findet seine Erklärung in der Existenz des Haupthofes Raestrup, der zum bischöflichen Tafelgut und zu Telgte gehörte. In Everswinkel war das Domkapitel reich begütert; zum bischöflichen Tafelgut gehörten nur zwei kleinere Höfe.

Wenn Everswinkel eine Eigenkirche war, so darf man wohl annehmen, dass sich die Pfarrgrenzen mit dem Einflussbereich des Hauses Borg deckten, was wiederum den Schluss zulässt, dass die adelige Familie auf Haus Borg über eine bedeutende Macht im hiesigen Raum verfügte. Ein Indiz dafür könnte das Einkommen des Pfarrers von Everswinkel sein. Im Jahre 1313 betrug es 12 Mark. Zum Vergleich seien die Einkommen der übrigen Pfarrer des alten Kreises Warendorf genannt:

Everswinkel: 12 MarkHoetmar: 5 Mark
Alverskirchen: 9 MarkFreckenhorst Dekan: 10 Mark
Ostbevern: 9 MarkHarsewinkel: 8 Mark
Milte: 3 MarkOstenfelde: 6 Mark
Westkirchen: 3 MarkFüchtorf: 5 Mark
Greffen: 4 MarkEinen: 3 Mark
Warendorf / Alte Kirche: 25 MarkWarendorf / Neue Kirche: 8 Mark

Die Entwicklung des Dorfes

Am Anfang waren die Bauernhöfe. Über die Entstehung des Dorfkerns schreibt A. Schröder in seinem Beitrag zur Festschrift zum 1100-jährigen Bestehen der Gemeinde: „Im Umkreis der mit Schutzanlagen ausgestatteten Wehrkirche gruppierten sich […] eine Anzahl Stätten, die sogenannten Spiker. Sie dienten den damaligen Höfen der im Kirchspiel Everswinkel gelegenen Bauernschaften in Kriegs- und Fehdezeiten als schützende Unterkunft für Mensch und Vieh sowie in Friedenszeiten als Getreidespeicher.“

Was von diesen Aussagen hat Bestand? Dass die alte romanische Kirche eine Wehrkirche war, lässt der noch bestehende, fast ungegliederte Turm, um 1250 vollendet, leicht erkennen. Mit seinen Schießscharten im unteren und mittleren Bereich weist er Festungscharakter auf. Nachzuweisen ist auch ein Wall im Norden und Osten des Kirchhofs; ein Wall aber nur an zwei Seiten der Anlage macht keinen Sinn. Er wird den ganzen Platz umschlossen haben. Ein umfassender Graben ist möglich, aber bisher nicht nachzuweisen.

Von den angesprochenen Spikern kann man um 1570 zwei aus den Akten erfassen. Als die Nachrichten reichlicher fließen, ist von Spikern keine Rede mehr, sondern von Gademen. Nach Stefan Baumheuer bezeichnen Gademe oder Gaden im 14. Jahrhundert kleine Mietshäuschen, die von begüterten Bürgern auf ihrem Grund errichtet wurden, um sie minderbemittelten Familien gegen Entgelt zur Verfügung zu stellen.

Die Auswertung der Akten ergibt folgendes Bild über die Situation am Kirchplatz und im übrigen Dorf.

  1. Am Kirchplatz
1609 16 Hausstätten (Pfarrarchiv, A 8 a)
1616 21 Hausstätten (Pfarrarchiv, A 6)
1648 17 Hausstätten (Pfarrarchiv, A 9)
1652 18 Hausstätten (Pfarrarchiv, A 9 a)

Alle zahlen Worthühner an den Pastor. Worthühner sind eine Abgabe für die Baugrundstücke.

Von den 21 Hausstätten (1616) sind zehn Gademe, die übrigen sind durch den Familiennamen bezeichnet. Fünf Gademe sind Bauernhöfen zuzuordnen.

Alle Hausstätten zahlen Kirchhofsheuer an den Pastor; die fünf Bauerngademe erheblich weniger als die übrigen.

So lassen sich folgende Schlüsse über die Bebauung des Kirchplatzes ziehen. Der Kirchplatz war Eigentum des Pastors bzw. der Kirche von Everswinkel. Auf diesem Grund und Boden ließen fünf Höfe Gademe errichten, die restlichen Gademe ließ der Pastor erbauen.

Über die Berufstätigkeit der 24 Kirchhöfer gibt ein Schatzungsregister von 1665 Auskunft. Im restlichen Dorf sind 1665 72 Steuerpflichtige aufgelistet.

Kirchhöferrestliches Dorf
Tagelöhner 5Tagelöhner 35
arm 10arm 14
Witwe 1Brinksitter 7 einer ausgewandert n. Holland
Häuser verkauft 2Miles (Söldner) 3
Häuser leer 1Einwöhner (Untermieter) 5 (1 Tagelohner u. 4 arm)
ohne Angabe 2ohne Angabe 5
Küster u. Schulmeister 2
Kirchspielhaus 1
Summe: 24Summe: 72
  • (StAM, F. M. L. 361/46)

Das Ergebnis der Untersuchung über die Wohn- und Sozialverhältnisse im Dorfkern ist überraschend. Statt der erwarteten Handwerker, Kaufleute, Krämer und Wirte finden sich nur Tagelöhner und arme Leute. Tagelöhner stehen in keinem festen Arbeitsverhältnis und werden nur bei Bedarf z. B. in der Erntezeit angeheuert und nach geleisteter Arbeit und Stundenzahl entlohnt. Sie waren damit vollständig abhängig von den Bauern, die ihre Dienste in Anspruch nahmen. Im Dorf wohnten die Unterschichten des Kirchspiels, abgesehen vom Pastor, dem Küster, dem Schulmeister und dem Wirt des Kirchspielhauses.

Drehen wir das Rad der Entwicklung um 100 Jahre weiter. Aus dem Jahre 1750 liegen mit dem Status Animarum genaue Angaben über die Einwohner der Pfarrei vor. Sie ergeben folgendes Bild:

Weber 61
Tagelöhner 33
Schneider 10
Zimmerleute 5
Schuster 5
Schmiede 3
Wirte 3
Maurer 1
Kaufmann 1
  • (Liselotte Sanner, Kirchspiel und Dorf Everswinkel, Beiträge zur Chronik, Everswinkel 1992, S. 60/61.)

Erst jetzt kann man von einer organischen, entwickelten, arbeitsteiligen Gesellschaft in der Pfarrei Everswinkel reden, allerdings mit einer überwältigenden Dominanz des Weberhandwerkes, das von jedem zweiten Gewerbetreibenden ausgeübt wird. Zum bisherigen Wirtschaftsfaktor Landwirtschaft kommt ein zweites Wirtschaftsstandbein: die Leineweberei. Noch nicht geklärt ist die Frage, woher dieser plötzliche Impuls zum Aufbau und Ausbau dieses Gewerbezweiges kam. Hinweisen kann man auf eine Verbindung zur nahe gelegenen Stadt Warendorf, denn dorthin lieferten die Everswinkler Weber ihre Tuche ab. Zudem lehnt sich Everswinkeler Weberrolle, also die Zunftsatzung, von 1775, eng an die älteren Warendorfer und Freckenhorster Rollen an. Möglich sind aber auch Beziehungen zu Holland. Die landsmannschaftliche Vereinigung westfälischer Webergesellen in Harlem mit Aufzeichnungen von 1720 bis 1743 führt sieben Personen aus Everswinkel auf. (Heimatblätter „Die Glocke“ Nr. 1, 02.11.1949)

Die Weber

Einige statistische Angaben mögen die Bedeutung der Weberei für den Ort Everswinkel kennzeichnen:

Leineweber um 18001825
Warendorf 74Weber 94
Freckenhorst 112Handwerker 49
Everswinkel 101andere 8
Summe: 151
1828 Einwohner: 2.2261849 Einwohner 2.240
Webstühle für Leinen 182Webstühle für Leinen 145
Nebengewerbe (Leinen) 6Nebengewerbe 0
Webstühle für Baumwolle 18
  • (Bettina Schleier, Textillandschaften Westfalens, in: Westf. Zeitschrift, Bd. 151/152, 2001/2002) (Kreisarchiv Warendorf, Gemeindearchiv Everswinkel, B 113)

Die ersten Einbußen in der Produktion und im Handel wurden durch die Kontinentalsperre Napoleons von 1806 verursacht, als der französische Kaiser den Handel mit England 1806 unterband, um England wirtschaftlich in die Knie zu zwingen. Die Auswirkungen werden durch den Bericht eines Everswinkler Zeitgenossen, des Küsters Theodor Herman Helmken, drastisch und bildnah vor Augen geführt. Er schreibt: „nun wurden schwischen unsers land und fransösichs eine linnige besogen von leute die man duwanen nente, sie wahren Reuber und nahmen die leute die aus den bergieschen in fransosichen mit Leinnen oder sonstigen wahren wolten handelen und nicht angaben, wurde es) die wahre wechgenommen die leute wurden ins gefängnis nach Wesel) geführet den wahren alle holländische Engellische wahren auch alle wahren, wen sie nicht fransosichen fabrisieret wahren, für Conterband gehalten, wen nun die Duwahnen einen mit solchen wahren antrafen nahmen sie es fordt, wer die wahre bey sich hatte wurde ins gefängnüß auch nach Wesel gebracht die Duwahnen lagen tag und nacht an die weege in büsche und streucher nun lag handel und wandel nieder, viele leute wurden bankrodt und Arm.

Soweit Theodor Hermann Helmken.

Die Ära Napoleon endete 1814/15. Der Niedergang der Hausweberei aber begann mit dem Aufkommen der industriellen Textilproduktion, einer Konkurrenz, der die heimischen Hausweber nicht gewachsen waren.

1840 wurde in Everswinkel die Stelle eines Nachtwächters angeboten, Gehalt 32 Reichstaler jährlich. Neun Personen bewarben sich, darunter sechs Weber. Sie begründeten ihr Gesuch fast übereinstimmend: „… unsere Profession ist so in Stockung, dass man hiervon gar nicht mehr leben kann.“ – … da der Leinwandhandel jetzt ganz stocket, kann ich dadurch nichts verdienen.“ „… die Weber-Profession ist so in Stockung, dass man bei dem größten Fleiße nicht mal das trockene Brot damit verdienen kann.“ Diese Aussagen sind eindeutig.

Während in den anderen Weberstädten des Kreises, in Warendorf, Freckenhorst und Sassenberg, die Weber Arbeit in neu gegründeten Textilfabriken fanden, gelang die Ansiedlung großer Betriebe in Everswinkel nicht. Was es bedeutet, wenn in einer Gemeinde Zweidrittel aller Gewerbetreibenden, die bisher für einen Außenmarkt produziert hatten, arbeitslos wurden und keinen Verdienst erzielten, kann man sich nur schwer vorstellen, zumal man bedenken muss, dass es keinerlei staatliche Unterstützung, kein Arbeitslosengeld gab und auch von kirchlicher Seite keine Hilfe zu erwarten war.

Die Innengemeinde verarmte. Wie prekär die Lage der Familien war, mag ein erhaltener Bericht der Lehrerin Gertrud Kortmann (1850 – 1936) anstelle von Zahlen und Statistiken erhellen. „Eine Frau erzählte an unserem Hause, ihr Mann habe in Drensteinfurt (Entfernung etwa 18 km) bei einer Festlichkeit musiziert und Geld bekommen. Davon habe er sich in Sendenhorst einen Scheffel Roggen gekauft, sei damit nach Umgrofen Mühle (zusätzliche Entfernung zum Dorf 5 km) gegangen und wäre gegen Abend mit einem Puck Mehl gekommen. Welche Freude! Gleich hätten sie davon einen Pfannkuchen gebacken – aus Roggenmehl mit Kleien, und wie hat uns das geschmeckt.“ Bieten Sie heute einmal einem Arbeitslosen an, er solle 40 bis 45 km gehen, zwischendurch musizieren, um Pfannkuchen backen zu können!

Welche Möglichkeiten zum Broterwerb blieben den Webern? Alle Gewerbetreibenden waren auf Landwirtschaft als Nebenerwerb auch vor dem Niedergang der Hausweberei angewiesen. Sie besaßen Ackerland, Wiesen und Weiden, hielten Kühe, die auch als Zugtiere verwendet wurden oder Ziegen und Schweine. Viele Familien verlegten sich nun verstärkt auf den Betrieb von Landwirtschaft. Das hieß, zupachten von Ländereien auch weit außerhalb des Dorfes, was weitere Anmarschwege bedeutete und damit die Arbeitszeit verkürzte und den Arbeitsaufwand vergrößerte. Über Ertrag und Betriebsgrößen gibt ein Bericht des Amtmanns Schütte aus dem Jahre 1862 Auskunft:

Zum Lebensunterhalt notwendig 25 Morgen
Ein Pferdegespann möglich bei 80 Morgen
167 Betriebe unter 5 Morgen
96 Betriebe 6 Morgen
87 Betriebe 30 – 200 Morgen
16 Betriebe 200 – 600 Morgen
(Kreisarchiv, Gemeindearchiv, B 82)

Eine weitere Verdienstmöglichkeit bestand wie schon vor dem Ausfall der Hausweberei in der Arbeit als Tagelöhner. Da aber immer mehr Personen auf diesen Arbeitsmarkt drängten, nahm der Verdienst ab. Amtmann Schütte führt 1862 dazu aus:

Tagesverdienst 12 Silbergroschen
Ausgaben für den Unterhalt einer Familie 24 Reichstaler
Ausgaben für Nahrungsmittel 50 Reichstaler
Sicherung des Unterhalts bei 8 Silbergroschen 352,5 Tagewerke
Sicherung des Unterhalts bei 12 Silbergroschen 235 Tagewerke
(Kreisarchiv, Gemeindearchiv, B 82)

Aus den Aufzeichnungen der Gertrud Kortmann

Verdienst im Tagelohn pro Tag 50 – 75 Pfennig
Verdienst einer Näherin pro Tag 25 Pfennig
Verdienst einer Gehilfin pro Tag 15 Pfennig
Preis für ein Pfund Butter 65 – 75 Pfennig
Preis für zwei Eier 5 Pfennig

Besser gestellte Familien stützten sich auf mehrere Gewerbe, z. B.

Landwirtschaft, Gastwirtschaft, Land- und Kohlenhandel Arning
Bäckerei, Gastwirtschaft, Landwirtschaft Diepenbrock
Bäckerei, Gastwirtschaft, Landwirtschaft Rieping
Bäckerei, Gastwirtschaft Mittrup
Blaufärberei, Gastwirtschaft, Textilgeschäft, Landwirtschaft Schefers

Als vierte Verdienstmöglichkeit zählt Gertrud Kortmann den Hollandgang auf und bemerkt dazu: „Samstag kehrte man zurück.

Eine wesentliche Änderung der sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse trat in Everswinkel bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges nicht ein. Die Innengemeinde blieb weitgehend arm. Charakteristisch für das Dorfbild waren die großen Tennentore, während die Geschäfts- und Werkräume verhältnismäßig klein gehalten waren. Lediglich die Molkerei Roberg und die Maschinenfabrik Lohmann konnten für sich in Anspruch nehmen, mittlere Betriebe mit Arbeitern und Angestellten zu sein.

Noch in den 30er und 40er Jahren war es keine Seltenheit, dass Eltern ihren schulentlassenen Kindern den Rat erteilten: „Geh erst einmal zu einem Bauern und iss dich dort satt. Dann kannst Du immer noch einen Beruf erlernen.

Postkarte mit einem Luftbild von Everswinkel aus dem Jahr 1969 im Vordergrund das Baugebiet der Bauernsiedlungs-Genossenschaft.

Der Weg zur modernen Gemeinde

Erst die Nachkriegszeit und die Wirtschaftswunderjahre führten zu einem durchgreifenden Wandel auf allen Gebieten. Der Zuzug von Ostvertriebenen und Flüchtlingen verursachte einen heute kaum noch vorstellbaren Wohnungsnotstand gerade auf dem Lande, die Städte waren zerbombt, so dass hier dringend Abhilfe geschaffen werden musste. Aber auch bei den Einheimischen bestand erheblicher Nachholbedarf, da in der Zwischenkriegszeit vielleicht vier oder fünf Häuser gebaut worden waren. So entstand schon bald nach der Währungsreform das erste Siedlungsgebiet auf der Horst. Noch unter Gemeindedirektor Peter Panzer wurde das Kanalnetz ausgebaut von  2,7 km im Jahr 1939 auf 10,5 km im Jahr 1967. Everswinkel, auf Brunnen angewiesen, litt in trockenen Sommern unter akutem Wassermangel. Hier schuf der Nachfolger Peter Panzers Hubert Guntermann durch den Bau eines Wasserwerks an der Ems und einer Wasserleitung zum Dorf eine befriedigende Lösung, verbunden mit dem Ausbau von Klärwerken. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Neubautätigkeit im Jahre 1967, als südlich des Dorfes die sogenannte Bauernsiedlung mit einem Zuzug von 400-500 Personen entstand. In der Folge kaufte die Gemeinde im Osten und Süden Baugelände auf und konnte es preisgünstig Bauwilligen anbieten. Die Aussicht, ein Eigenheim zu erwerben, zog vor allem Bewohner aus Münster an, so dass sich im Zeitraum von 1958 bis 1973 die Einwohnerzahl von 3.329 auf 5.200 erhöhte.

Diese verstärkte Bautätigkeit und der erhebliche Zuwachs an Einwohnern verschafften den Gewerbetreibenden und Kaufleuten bessere Verdienstmöglichkeiten. Damit entfiel die Notwendigkeit des Betriebes von Landwirtschaft als zweitem wirtschaftlichen Standbein, sie war unprofitabel geworden und wurde aufgegeben. Die bisher landwirtschaftlich genutzten Räume wurden überflüssig und machten Wohn- und Werkräumen Platz. Durch den Wegfall der großen Tennentore erhielt das Dorf auch in seinem Erscheinungsbild einen völlig veränderten Charakter. Es wurde kräftig modernisiert: Die Straßen wurden asphaltiert, Bürgersteige angelegt. Die außen angesetzten Treppenaufgänge verschwanden.

Als besonders schwerwiegend erwies sich der Eingriff in die Bebauung des Kirchplatzes. 1967 wurden die Häuser südlich des Kirchplatzes abgerissen und gaben einer verbreiterten Straße und einem Parkplatz Raum; den Kirchhof im Süden begrenzte nun eine aus Bruchsteinen errichtete Mauer.

Der Abriss der Fachwerkhäuser am Kirchplatz in einer Bleistiftzeichnung von Albert Reinker, 1970

Hier muss man einen Augenblick innehalten, denn der Abbruch der Häuser im südlichen Bereich des Kirchplatzes zerstörte den organisch gewachsenen Bestand einer geschlossenen Bebauung um die Kirche mit überwiegend alten Fachwerkhäusern. Man mag das bedauern. Heute würde man wahrscheinlich den Erhalt der traditionellen Bausubstanz betreiben, aber eins muss man festhalten: Der Modernisierungsschub war unumgänglich, denn ohne sanitäre Einrichtungen sowie mit niedrigen, kleinen Wohn- und Schlafzimmern war die Wohnqualität der alten Häuser untragbar.

Anfang der siebziger Jahre stand die kommunale Neuordnung an. Die Gemeinde schloss einen Neuordnungsvertrag mit Alverskirchen und Einen und glaubte so, den Erhalt der Selbstständigkeit gesichert zu haben. Das war aber nicht der Fall, und wenn einige Beobachter glaubten, dass mit der Eingliederung Alverskirchens die Hürde genommen sei, so irrten sie sich. Die Gemeinde Einen sprang ab und ließ sich nach Warendorf einbinden. Damit verlor Everswinkel das nördlich der Bundesstraße 64 gelegene Siedlungsgebiet und erreichte nicht mehr die geforderte Einwohnerzahl von 5.000 als Unterzentrum. Alles war wieder offen.

Den vereinten Anstrengungen von Gemeindedirektor Guntermann, Verwaltung und allen Kommunalpolitikern, zu nennen sind hier Bernhard Lohmann und Günter Homann, gelang es, die Neuordnungskommission von der Lebensfähigkeit einer eigenständigen Gemeinde Everswinkel zu überzeugen.

Ohne den Ausbau nach der Währungsreform hätte die Gemeinde mit ihren 2.353 Einwohnern 1949 nicht die geringste Chance auf Eigenständigkeit gehabt. Die Bedeutung des Erhaltes der Selbstständigkeit kann man für die Entwicklung der Gemeinde nicht hoch genug einschätzen. Den Männern und Frauen, die sich damals für den Ort einsetzten, hat Everswinkel viel zu verdanken.

Mit der Wahl eines neuen Gemeindedirektors 1976 bewies der Rat eine glückliche Hand. Unter der Leitung von Hermann Walter wuchs Everswinkel zu dem heran, was es heute ist: Neue Baugebiete wurden ausgewiesen, es entstanden Sportanlagen, vier Turnhallen, ein Schwimmbad, Tennisplätze, eine Tennishalle, ein Sportpark und eine Reithalle. Eine Umgehungsstraße entlastete die Straßen im Dorf vom Fernverkehr, der Ausbau des Magnusplatzes gab dem Ortskern ein völlig neues Gesicht in einem modernen, gefälligen Stil mit dem Rathaus als Blickfang. Um 1990 wurden Kirchplatz und Dorfstraßen nochmals umgestaltet und heutigem Empfinden angepasst. Durch den Bau immer zahlreicher werdender Eigenheime drohte Everswinkel eine ländliche Wohngemeinde zu werden. Hermann Walter gelang es, diesen Trend aufzufangen durch die Ausweisung von Gewerbegebieten, die Unternehmen angeboten wurden. In diesem Zusammenhang sei nur ein Beispiel aufgegriffen: die Niederlassung der Humana Milchunion in Everswinkel.

Das kulturelle Leben, einst auf nur wenige Träger beschränkt, profitierte von der Zuwanderung von Neubürgern und blühte auf. Hier die Vereine, Gruppen, Chöre und Orchester einzeln zu nennen, würde Ihre Geduld zu sehr strapazieren. Die jüngste Errungenschaft, das „Mitmach-Museum Up’n Hoff“ haben Sie heute Nachmittag kennengelernt. Ich hoffe, dass Sie nicht enttäuscht wurden und es nicht bereuen, nach Everswinkel gekommen zu sein.

Die beiden katholischen Pfarrgemeinden St. Magnus Everswinkel und St. Agatha Alverskirchen fusionierten am 27. September 2009 zur Katholischen Kirchengemeinde St. Magnus / St. Agatha. 

Download PDF

Text und Tabellen: Erwin Buntenkötter

Menue